Morbus Mediterraneus. Wie rassistische Codes die Gesundheit von Menschen gefährden.

Rassistische Vorurteile finden sich leider überall. In meiner, nun nicht mehr ganz so neuen, gewerkschaftlichen Aufgabe als Projektleiter der bundesweiten Initiative „Unsere Arbeit – Unsere Vielfalt – Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz“, begegnen mir bei unseren bundesweiten Besuchen spannende Menschen, die mit Herz und Haltung daran arbeiten rassistische Vorurteile und Verschwörungserzählungen mit Kompetenz – und Wissensvermittlung zurück zu drängen. Bei einem Projektbesuch in Mainz, vor nicht allzu langer Zeit, traf ich auf eine Kollegin, die von ihrer Demokratiearbeit im Gesundheitswesen berichtete. Im Gespräch fiel ein Begriff, den ich nicht sofort verstand, der aber an Deutlichkeit im Grunde nichts vermissen lässt. Morbus Mediterraneus.

Im ersten Moment dachte ich, wahrscheinlich ausgelöst durch den bekannten lateinischen Begriff Morbus, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die ich nicht kenne oder die eben nur ganz selten auftritt. Auf der Rückfahrt, mit der Deutschen Bahn, hatte ich wie so oft etwas mehr Zeit als geplant 😉 und begann zu recherchieren. Auch wenn ich „Dr. Google“ im Zusammenhang mit medizinischen Diagnosen absolut nicht empfehlen kann, wurde ich in diesem Fall sehr schnell fündig. In einem Artikel von Vera Stary, von Anfang 2019, mit dem spannenden Titel: „Morbus mediterraneus und Co.: Geheimbegriffe der Ärzte erklärt“ (1) klärt Frau Stary über Begrifflichkeiten auf, die Ärzte und medizinisches Personal untereinander benutzen um sich über Patient:innen lustig zu machen und um rassistische Vorurteile zu codieren, damit die Betroffenen es nicht bemerken. Im Fall Morbus Mediterraneus handelt es sich um die Zuordnung, dass ein Mensch aus dem Mittelmeerraum kommt und nach gängigem Vorurteil ein niedriges Schmerzempfinden hat. Morbus: Krankheit. Mediterraneus: Mittelmeerraum. Das diese Form des Vorurteils nur auf Menschen mit Migrationshintergrund zutrifft, muss hier sicher nicht erklärt werden.

Wir können uns diesen Vorgang also einfach so vorstellen. Im Behandlungszimmer 2 sitzt eine Patientin. Sie spricht nicht so gutes Deutsch und versucht deutlich zu machen, dass sie starke Schmerzen im Bauch hat. Auf dem Flur trifft Arzt 1 auf eine Kollegin, die gerade unterwegs ist, um im Behandlungszimmer 2 zu helfen. Arzt 1 sagt beiläufig. „Mach dir keinen Stress. Da sitzt eine mit Morbus Mediterraneus!“ Für die Kollegin ist also klar. Da sitzt eine Patientin, die nicht wirklich krank ist. Wie wird wohl die Suche nach Ursachen für die Bauchschmerzen und die damit verbundene Behandlung in diesem Fall aussehen? Wir können es zumindest erahnen.

Meine Kollegin berichtete mir jedenfalls in unserem Gespräch, dass diese Zuordnung in vielen Bereichen des Gesundheitswesens Alltag ist. Es gibt als Gegenstück auch Morbus Germanicus. Was das ist, könnt ihr Dr. Google selber fragen. Aber ihr ahnt es sicher…

Um das gesamte Problem noch ein wenig greifbarer zu machen, empfehle ich einen Blick in folgenden Vorgang, der sich völlig offen nachlesbar auf einem Forum des Gesundheitswesens findet. Hier diskutieren Auszubildende und Studierende aus dem Gesundheitswesen miteinander und tauschen Erfahrungen aus. Offen und unverhohlen. Morbus mediterraneus in der Ambulanz (medi-learn.de) (2)

Leider ist das Thema Rassismus im Gesundheitswesen und die damit verbundenen Probleme für betroffene Menschen in der Gesundheitspolitik bisher nur ein Randthema. Hin und wieder wird es in der Fachwelt aufgegriffen. Belastbare Studien und Nachweise gibt es leider nicht. Darauf weist auch Dr. Mathias Wendeborn, Kinder- und Jugendarzt aus München und Vorsitzender von REFUDOCS e.V. in einem Artikel im Bayrischen Ärzteblatt hin. Unter dem Titel „Gedanken zu Rassismus im deutschen Gesundheitswesen“ ordnet er die Problematik international ein und stellt fest: „Was dem Kriterium des internalisierten Rassismus entspricht. Auch Patientenberichte aus dem Praxisalltag lassen klare Schlüsse zu, dass es in Notaufnahmen, Ambulanzen und Arztpraxen regelmäßig zu rassistischen Zuschreibungen und Ausgrenzungen kommt. Über Art, Häufigkeit und Konsequenzen betroffener Gruppen und Auswirkungen von Diskriminierungsstrukturen auf Gesundheit und Gesellschaft gibt es in Deutschland bisher keine systematischen Untersuchungen.“ Dr. Wendeborn weist aber nicht nur auf fehlende wissenschaftliche Begleitung des Themas hin, sondern fordert geradezu dazu auf endlich systematische Untersuchungen anzustellen. (3)

Mit diesem kleinen, einordnenden Artikel geht es nicht darum, den im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen, die oftmals an der Schwelle der Überlastung arbeiten müssen, per se rassistische Einstellungen zu unterstellen. Aber mit Blick auf die Forschungsergebnisse zu Rassismus und Vorurteilen in der gesamten Gesellschaft, ist das Gesundheitswesen eben natürlich nicht frei von menschenverachtendem, rassistischem Gedankengut. Eine kurze Recherche hat bereits ausgereicht zu erkennen, dass rassistische Zuordnungen wie Morbus Mediterraneus oder Morbus Bosporus eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten kann. Beschäftigte im Gesundheitswesen, die diese Zuordnung zur Indikation von Krankheitsbildern hinzufügen, gefährden damit Menschen, die ihnen faktisch medizinisch ausgeliefert sind. Dem haben sich die alle im Gesundheitswesen Beschäftigten und die dafür zuständigen Verantwortlichen zu stellen. Beginnen sollten wir damit ernsthaft bereits in der Ausbildung.

Quellen / Nachweise / Links

1 Morbus mediterraneus und Co.: Geheimbegriffe der Ärzte erklärt | FOCUS.de

2 Morbus mediterraneus in der Ambulanz (medi-learn.de)

3 BAB_6_2021_264_265.pdf (bayerisches-aerzteblatt.de)

Zum Autor:

Sandro Witt ist Projektleiter der bundesweiten DGB Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz. Davor war er u.a. 8 Jahre stellv. Vorsitzender des DGB Hessen – Thüringen.

www.betriebliche-demokratiekompetenz.de

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